Jan: „Das Leben auf der Straße ist teuer“
Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus. Ich war 19 oder 20. Mein Geld reichte nicht für eine eigene Wohnung, ich konnte auch bei keinem Freund unterkommen und aufs Sozialamt wollte ich nicht gehen. Vielleicht war ich einfach zu eitel dafür. Also schmiss ich alles hin. Dass jeder Mensch in Deutschland ein Recht auf ein Dach über dem Kopf hat, wusste ich damals noch nicht. Ich hielt es einfach nicht mehr aus. Ich bin nicht mehr zur Arbeit gegangen, ich packte die wichtigsten Sachen in eine Tasche und lebte von nun an auf der Straße.
Ich konnte nachts kaum schlafen, hatte immer Angst, dass jemand kommt und meine Sachen mitnimmt. Ich fand schnell einige gute Freunde auf der Straße. Allein auf der Straße zu leben, ist gefährlich. Im Sommer war es schön, draußen zu sein, im Winter war es kaum auszuhalten. Du musst dich an die Kälte gewöhnen, wenn du nirgendwohin kannst, geht es nicht anders.
Petra: „Ich lebe nicht auf der Straße“
Petra erzählt, sie würde in der Unterkunft wohnen. Doch die Betreuer kennen sie nicht, ihr Name steht auf einer Liste und sie sehen sie erst seit Ende Oktober, seit die Nächte kalt und ungemütlich geworden sind. Sie nimmt den sogenannten Erfrierungsschutz wahr, ein Angebot für Frauen, die auf der Straße leben und sich nachts vor der Kälte schützen möchten.
Morgens verschwindet sie wieder in der Stadt. Unsichtbar. Mit ihrem gepackten Koffer und ihrer Einkaufstasche würde wohl kaum einer vermuten, dass sie auf der Straße lebt, sie sieht eher aus wie eine Frau auf der Durchreise.
Sebastian: „Auf die Straße zu gehen, war eine Wiedergeburt“
Was ich an meinem Leben schätze? Jetzt wo ich gezwungen bin, darüber nachzudenken höre ich sofort auf zu denken. Ich registriere einfach nur die Schönheit dieses Ortes, an dem ich jetzt lebe. Willenskraft nennt man das wohl, wenn man sich aus allem rausziehen kann, was man nicht möchte. Willenskraft muss man erst einmal besitzen. Das ist gar nicht so einfach. Du musst dir bewusst sein, was du im Leben willst. Das ist das eine. Das andere ist, auch das zu tun, was du wirklich möchtest. Willenskraft ist die Grundlage für alle deine bewussten Veränderungen im Leben.
Sarah „Ich bin mit Gewalt aufgewachsen“
Natürlich war das ein seltsames Gefühl, auf der Straße zu leben und damit klar zu kommen. Meine tägliche Aufgabe bestand darin, mir einen freien Schlafplatz zu suchen. Manchmal konnte ich auch bei irgendwelchen Leuten, die ich kannte, auf der Couch übernachten. Als Frau auf der Straße zu leben, ist schon ein hartes Ding. Es gab immer wieder Typen, die gedacht haben, sie könnten sich an mich ran machen.
Meine Obdachlosigkeit hat mir keiner angesehen. Ich habe jeden Tag geduscht. Gelegenheiten gab es in verschiedenen Einrichtungen. Ich zog mir auch immer frische Sachen an. Da gibt es auf der Straße ganz andere, denen siehst du ihr Leben sofort an. Auf der Straße bin ich dann ganz schnell in die Drogenszene gerutscht. Kontakte gab es überall.
Paul: „Mit 13 bin ich von zuhause raus“
Paul: Auf meinem Ausweis steht, dass ich keinen festen Wohnsitz in Deutschland habe, also nicht gemeldet bin. Immerhin besitze ich bei den Streetworkern eine Postadresse. Das ist ganz praktisch, weil ich von den Ämtern immer mal was geschickt bekomme, also zum Kindergeld, Halbwaisenrente und was sonst noch gerade läuft. Ich bin zweiundzwanzig. Mit dreizehn bin ich von daheim raus, weil ich es nicht mehr ausgehalten habe. Das ging einfach nicht mehr. Meine Mutter war drogenabhängig und spielsüchtig. Na ja, spielsüchtig ist sie immer noch. Und mit meinem Stiefvater verstand ich mich überhaupt nicht.
Carlo: „Die Magie des Waldes“
Der Wald ist nicht für jeden als Lebensraum geeignet. Immer wieder kommen Menschen hoch, um Zuflucht zu finden, sei es zu einer anderen Realität, zu einer Gemeinschaft oder zu zeitlosen Momenten. Oft treibt sie auch nur der Drang nach Veränderung hierher, der Wunsch, Abstand von ihrem gewohnten Leben zu bekommen, aber auch, um zu sich selbst zu finden. Dazu genügt es nicht, einfach nur Abstand zu nehmen. Natürlich bekomme ich hier im Wald Abstand. Doch um zu sich selbst zu finden, bedarf es nochmal mehr. Du begegnest dir hier so stark dir selbst, deinen Bedürfnissen und deinen Vorstellungen, dass manche schnell lieber wieder ins Gewohnte zurückkehren.
Larissa: „Langsam finde ich zu mir“
Wie sollte es weitergehen? Ich wusste es erstmal nicht. Aus Scham und wahrscheinlich auch falschem Stolz suchte ich mir keine Hilfe. Ich wäre bestimmt in einer anderen Einrichtung untergekommen. Unterschlupf fand ich bei Freunden und Bekannten, die ich vom betreuten Wohnen und vom Mutter-Kind-Heim kannte. Nacht für Nacht konnte ich woanders schlafen. Darüber war ich sehr dankbar. Couchsurfing nennt man das wohl. Ich war wohnungslos, wollte mir das aber nicht eingestehen. Selten hatten die Freunde ein eigenes Zimmer für mich. Oft schlief ich auf dem Sofa. Du darfst halt nicht anecken. Meist musste ich am nächsten Tag wieder los.
Oliver: „Ich wollte ihr etwas bieten können“
Ich hatte schöne und schlechte Erlebnisse. Die schönen Erlebnisse überwiegen. Die schlechten Erfahrungen unterdrückt man. Das ist vielleicht nicht der beste Weg, aber es befreit. Ich hatte mir immer gesagt, dass ich in meinem Leben einiges erreicht habe, obwohl ich auf der Straße lebe. Ich hatte einen Beruf gelernt, eine Familie gehabt. Meine Erfahrungen nimmt mir keiner, und wenn ich heute manchmal in die Stadt gehe und sehe einen Obdachlosen auf der Straße sitzen, dann gebe ich ihm ein bisschen Geld. Ich habe Respekt vor diesen Menschen, weil sie um ihr Überleben kämpfen. Im Schrank liegt noch immer mein Schlafsack, ein letztes Überbleibsel aus der Zeit.
Carlo: „Leben im Wald":
Das Leben hier oben bringt Erkenntnis, die Erkenntnis ob ich mit mir selbst auskommen will und kann oder eben nicht. Es ist natürlich schön, sich von mehr und mehr Abhängigkeiten zu befreien, dein Leben selbst zu gestalten, zu kreieren, in gewisser Weise dir auch eine eigene Realität zu erschaffen, die sich aus dem ergibt, was du gerade schön findest. Es ist oft leichter, sich in einem leeren Raum selbst zu erkennen als in einem Raum, in dem sich viele Menschen befinden. Einfach weil du dich mehr auf dich selbst beziehst. Du wirst nicht ständig abgelenkt. Das bringt dich deinem Selbst näher. Manchmal kommen Menschen hier hoch, die sich nach ein paar Stunden allein selbst nicht aushalten können. Unten in der Stadt haben sie es leichter, sich im alltäglichen Dasein zu verlieren. Auch wenn es viele gar nicht wollen. Du kannst dich natürlich auch hier oben ablenken, es gibt ja Internet. Doch umso mehr Stunden du vor dem Laptop sitzt, desto mehr stellst du dir selbst die Frage, was du hier eigentlich zu suchen hast.
Johanna: „Es hat nie einer gemerkt“
Als ich in der Stadt ankam, war es Februar. Es war eisigkalt. Im Rathaus fragte ich nach einer Unterkunft für mich. Der zuständige Leiter sagte mir, in der Stadt hätte ich keinen Anspruch auf einen Platz im Obdachlosenheim, weil ich nicht von hier komme. Was sollte ich jetzt tun? Ich war verzweifelt. Auf die Straße konnte ich bei der Kälte nicht, da wäre ich erfroren. Ein Hotelzimmer war mir zu teuer. Ich saß im Flur und wusste nicht weiter. Eine Mitarbeiterin kam auf mich zu, sprach mich an, fragte, ob alles in Ordnung sei. Ich erzählte ihr von mir und auch, warum ich hierhergekommen bin, ohne zu wissen wohin. Ich wollte doch nur in der Nähe meines Sohnes sein. Sie ging zu ihrem Chef, der mich ja vorher abgewiesen hatte. Sie redete mit ihm, und schließlich boten sie mir einen Platz in einer Einrichtung für wohnungslose Frauen an. Oh Gott, das war schrecklich dort.
Richard: „Die Erinnerungen belasten mich noch heute“
Ich kam in einem Hotel unter, in dem nur wohnungslose Menschen wie ich lebten. Gezahlt hat mein Zimmer das Amt. Einige Monate ging das ganz gut, dann wollte der Besitzer uns raushaben. Nun war ich nicht nur wohnungs- sondern auch noch obdachlos. Zumindest für die nächsten Tage. Das war für mich richtig schlimm, eine ganz neue Erfahrung. Ich kam damit gar nicht klar. Es war ja nicht nur die Kälte. Auf einem Kinderspielplatz suchte ich mir einen Platz zum Schlafen. Nachts liefen immer wieder seltsame Gestalten rum, manchmal allein, manchmal in Gruppen. Ich sah schon die Gefahr, dass es zu Stress hätte kommen können. Und dann? Da ist ja keiner, der dir geholfen hätte. Ich wäre schutzlos ausgeliefert gewesen. Nach ein paar Tagen nahm mich zum Glück eine gute Bekannte auf. Ihr Freund hatte ein paar Jahre in einer sozialen Einrichtung für Wohnungslose gelebt. Er gab mir die Adresse.